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Die Biophysik des Schlangenbisses

Die Biophysik des Schlangenbisses

Giftige Tränen

Schlangen injizieren ihr Gift durch einen hohlen Giftzahn in ihr Opfer – glauben die meisten Menschen. Doch die meisten Schlangen und viele andere giftige Reptilien haben gar keine hohlen Zähne sondern, wie Physiker der Technischen Universität München (TUM) in Zusammenarbeit mit einem Biologen der University of Massachusetts Amherst nun heraus gefunden haben, verwenden ganz andere Mechanismen um ihr Gift über eine Furche im Giftzahn erfolgreich tief unter die Haut ihrer Opfer zu bringen.

 

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Elektronenmikroskopische Aufnahmen zeigen die ausgeprägte Furche im Fangzahn (A) einer giftigen Mangroven-Natter (Bothryum lentiginosum), die Echsen jagt, während bei (B) die Nachtbaumnatter (Boiga dendrophila) als Generalist sich von sowohl Echsen als auch von Vögeln ernährt. [Bild: B.A. Young et al., Phys. Rev. Lett. 106 (2011) 198103]

Seit Jahren erforschen Professor Leo van Hemmen, Biophysiker an der TU München, und Professor Bruce Young, Biologe an der University of Massachusetts Lowell, den Gehörsinn von Schlangen. Als Sie über die Giftigkeit ihrer Schlangen diskutierten, stellten sie fest, dass nur wenige Schlangen ihr Gift mit Druck durch einen hohlen Giftzahn in den Körper des Opfers injizieren. Die weitaus meisten giftigen Reptilien haben keinen hohlen Zahn, trotzdem jagen sie erfolgreich. Doch wie stellen sie das an?

Nur etwa ein Siebtel aller Giftschlangen nutzen, wie die Klapperschlange, den Trick mit dem hohlen Giftzahn. Die überwiegende Mehrheit hat ein anderes System entwickelt. Ein typischer Vertreter dieser Arten ist die Nachtbaumnatter, Boiga dendrophila (vgl. Figur). Mit ihren Doppelzähnen reißt sie ein Loch in die Haut ihres Opfers. Zwischen den Zähnen und dem Gewebe fließt das Gift durch einen "Kanal" tief in die Wunde. Es geht also recht einfach: Viele Giftzähne haben lediglich eine Furche, an der entlang das Gift in die Wunde gelangt.

Die Forscher fragten sich, warum diese einfache Methode evolutionsbiologisch so erfolgreich sein konnte, obwohl beispielsweise Vogelfedern das offen auf dem Zahn entlang fließende Gift abstreifen können müssten – und tun. Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, untersuchten sie die Oberflächenspannung und die Viskosität verschiedener Schlangengifte. Ihre Messungen zeigen, dass Schlangengift erstaunlich zähflüssig ist, solange es auf dem Zahn liegt und keine Scherspannung vorhanden ist.

Die Oberflächenspannung ist hoch, sie entspricht in etwa der von Wasser. Im Ergebnis ziehen die Oberflächenenergien einen Tropfen Schlangengift in die Rinne des Zahns, in der er sich dann ausbreitet.. Die Giftdrüse legt – nicht spritzt – nur die Tropfen oben in die Rinne. Durch eine optimale Geometrie der Zahnfurche und die Anpassung der Viskosität des Giftes haben sich die Schlangen im Laufe der Evolution auf ihre bevorzugten Opfer eingestellt. Vogelfressende Schlangen haben tiefere Furchen entwickelt, in denen das zähflüssige Gift tief in die Rinne zieht und somit nicht mehr von Vogelfedern abgestreift werden kann; vgl. den Unterschied zwischen den Rillen in den obigen Figuren A und B, wo Schlange „B“ auch Vögel jagt während Schlange „A“ sich nur mit Echsen begnügt.

Gelöst wurde auch die Frage, wie die Schlange das Gift tief unter die Haut des Opfers bringt, denn erst dort kann es seine tödliche oder lähmende Wirkung entfalten. Auch hierfür haben Schlangen im Laufe der Evolution einen Trick entwickelt: Beißt die Schlange zu, bilden Zahnfurche und umliegendes Gewebe einen Kanal. Wie ein Löschblatt saugt das Gewebe das Gift durch diese Röhre. Und genau hierfür ist das Schlangengift in besonderer Weise zusammengesetzt: Wie Ketchup, der durch Schütteln deutlich flüssiger wird, lassen die durch den Sog auftretenden Scherkräfte das Schlangengift wesentlich dünnflüssiger werden, so das es dank der Oberflächenspannung schnell durch die Giftröhre einziehen kann.

Flüssigkeiten, die sich so verhalten (wie Ketchup), nennen die Wissenschaftler nicht-Newtonsche Flüssigkeiten. Für die Schlange hat dies eine höchst praktische Konsequenz: So lange keine Beute in Sicht ist, liegt das Gift zähflüssig und klebrig in der Rinne. Beißt die Schlange zu, fließen – wie bei Wein entlang des Glases – die giftigen „Tränen“ entlang der Furche in die Wunde und entfalten dort ihre lähmende oder sogar tödliche Wirkung.

Teile der Arbeiten wurden unterstützt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung über das Bernstein Center for Computational Neuroscience Munich. Professor van Hemmen ist auch Mitglied des Exzellenzclusters Cognition for Technical Systems (CoTeSys).

 

Original-Publikation

Tears of Venom: Hydrodynamics of Reptilian Envenomation
Bruce A. Young, Florian Herzog, Paul Friedel, Sebastian Rammensee, Andreas Bausch und J. Leo van Hemmen, Physical Review Letters 106, 198103 (2011)
DOI: 10.1103/PhysRevLett.106.198103
Link: http://prl.aps.org/abstract/PRL/v106/i19/e198103

Publikation zum Hörsinn von Schlangen

Auditory localization of ground-borne vibrations in snakes
Paul Friedel, Bruce A. Young, und J. Leo van Hemmen
Physical Review Letters 100, 048701 (2008)
DOI: 10.1103/PhysRevLett.100.048701
Link: http://portal.mytum.de/pressestelle/pressemitteilungen/news_article.2008-01-30.2480323170

Kontakt

Prof. Dr. J. Leo van Hemmen
Technische Universität München
Physik-Department T35 – Lehrstuhl für Theoretische Biophysik
85747 Garching, Germany
Tel.: +49 89 289 12380 – Fax: +49 89 289 12296
E-Mail: lvh@tum.de – Internet: http://www.t35.ph.tum.de/lvh

 

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